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Bericht über die IASA-Jahrestagung 2016

18. - 19. November 2016 in Stuttgart

Programm

Und sie dreht sich doch!

„News“ zu Beginn

Meine beiden vergangenen beruflichen Reisen nach Stuttgart  hatten die neue Stadtbibliothek am Mailänder Platz, ein Highlight des zeitgenössischen Bibliotheksbaus, zum Ziel. Doch dieses Mal führte der Weg dort vorbei und setzte sich aussichts- und kurvenreich mit der Buslinie 44 zum architektonisch durchmischten Gebäudeensemble der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste am Killesberg fort, wo die Jahrestagung der IASA-Ländergruppe Deutschland/Schweiz e.V. am 18. und 19. November 2016 stattfand. Bei den Recherchen zum Tagungsbericht stieß ich auf folgende Quelle mit der Meldung über eine mehr oder weniger bekannte Begebenheit, die einleitend das Tagungsgeschehen recht passend umrahmt und ihre Auflösung zum Schluss findet:

„Erst kürzlich wurden (…) in einem Kellerraume der Pariser Grossen Oper 100 Grammophonplatten, auf denen die Stimmen berühmter Sänger und Sängerinnen der Jetztzeit fixiert waren, im Angesichte einer feierlichen Versammlung in ein Kupferbehältnis verschlossen, luftdicht eingelötet und sodann in einen Eisenschrank gesperrt. Beigegeben wurde ein erstklassiges Grammophon mit der Bestimmung, dass eine Oeffnung dieses Schrankes erst nach 100 Jahren erfolgen dürfe. Auf diese Weise hofft man die Stimmen der jetzt lebenden Sangesgrössen den späten Enkeln zu erhalten.“ (Oesterreichisch-Ungarische Sprechmaschinen- und Musikinstrumenten-Zeitung Nr.1, 2.Jahrgang (1908), 6 f.) 

Offen und vielfältig

Die mehr als 250 Jahre alte Kunstakademie ist eine der größten Kunsthochschulen in Deutschland und bietet ihren ca. 900 Studenten 18 Studiengänge in den Fachgruppen Kunst, Architektur, Design und Kunstwissenschaften-Restaurierung. Die traditionsreiche Einrichtung durchlebte eine wechselvolle Geschichte von der „Academia artium Stuttgardensis“ an der „Hohen Carlsschule“ bis zum ehrgeizigen Vorhaben einer Zusammenführung aller Stuttgarter Kunstlehranstalten, das der Architekt Bernhard Pankok am Anfang des 20. Jahrhunderts verfolgte. Diese Vision konnte erst 1946, nach der unheilvollen Nazizeit, mit der feierlichen Wiedereröffnung der Akademie in den Gebäuden der ehemaligen Kunstgewerbeschule auf dem Weißenhof  verwirklicht werden. Seitdem entwickelte sie sich vielfältig und stilistisch pluralistisch zur „Offenen Hochschule der Künste“ mit wachsender Zahl der Auslandskontakte.

http://www.abk-stuttgart.de/hochschule/profil/geschichte-der-akademie.html

Zur Begrüßung sprachen Pio Pellizzari (Vorsitzender der Ländergruppe IASA Deutschland/Schweiz e.V. und Vizepräsident der internationalen IASA, Direktor der Schweizerischen Nationalphonothek), Prof. Dr. Nils Büttner (Prorektor der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart) sowie Prof. Johannes Gfeller  (Professor für Konservierung Neuer Medien und Digitaler Information in der Fachgruppe Kunstwissenschaften-Restaurierung der Staatliche Akademie der Bildenden Künste).

Letzterer hielt den Eröffnungsvortrag „Der Master-Studiengang ‚Konservierung Neuer Medien und Digitaler Information‘ an der Staatlichen Akademie der Bildenden Künste Stuttgart“. Die europaweit einzigartige Ausbildung zum Preservation Manager (M.A.) vermittelt seit 2006 Kenntnisse und Fähigkeiten für den langfristigen Erhalt von Kunst, Kultur-, Archiv- und Bibliotheksgut. Die Schwerpunkte liegen auf den Bildmedien, der Fotografie und den audiovisuellen Medien sowie der genuin digitalen und digitalisierten Information.

http://www.mediaconservation.abk-stuttgart.de/

Digital beginnt mit Mechanik

Die Akademie verfügt über 32 hervorragend ausgestattete Werkstätten. Vielleicht entstand aus diesem Grund die Neuerung, zwei Workshops zu den Themen „Erhalt“ und „Audio“ gleichzeitig anzubieten. Zur Wahl standen die Themen „Audio bei Amateurfilm (Magnetton Ein-, Zweispur, separat, Zweitontechnik)“ mit Anna Leippe (Haus des Dokumentarfilms) und „Erhaltung Neuer Medien und Digitaler Information:  Was kann ich selbst tun und was muss man Fachpersonen überlassen?“ mit Prof. Johannes Gfeller, den ich gewählt habe.

Es ist angerichtet!

Prof. Gfeller bot den Teilnehmern eine „Speise“-Tafel voller Geräte, die von Kuriositäten über Raritäten bis zu Erstaunlichem reichte. Das Menü bestand u.a. aus einem tönenden Kreissägeblatt, das keine singende Säge, sondern eine als Sägeblatt gezackte Shape-LP mit Kreissäge-Geräuschen war. Als nächstes drehte ein batteriebetriebener VW-Bus in Modellgröße, per Abtastnadel und Plattenrille  gelenkt, auf einer Schallplatte seine Runden und strahlte die Musik über seine Lautsprecher ab. Wer hier die Stirn runzelt, dem sei gesagt, dass dieser „Record-Runner“ auch „Vinyl-Killer“ genannt wird.

Die Tipps zur Nassreinigung von Schallplatten erzeugten einen regen Erfahrungsaustausch, der speziell den Schutz der Labels vor Nässe mit Dichtungsscheiben und die Zusammensetzung der Reinigungsflüssigkeit (destilliertes Wasser, Alkohol, Spülmittel) betraf. Als Waschgerät wurde der „Disco-Antistat“ von Knosti gezeigt. Nicht nur Schallplatten müssen gereinigt werden, sondern auch Magnetbänder, deren Bandwicklungen infolge abgelöster Magnetschichten zusammenkleben können, was sich mit quietschendem Lauf bemerkbar macht (Sticky Shed Syndrome). Das Problem wird mit speziell geeigneten Geräten behoben, die die Bänder vorsichtig dörren bzw. „backen“ (Tape-Baking). Ein Wiedersehen mit der Tonaufzeichnung auf Stahldraht („Angelschnur“)  gab es für mich, weil ich dieses System mit stundenlanger Spieldauer während meiner Funker-Ausbildung beim Militärdienst auf einer alten russischen Sendestation kennenlernte. Auch hier berieten die Experten über die beste Möglichkeit, einen gerissenen Draht zu reparieren. Der Knoten fiel natürlich durch!

Eine Kombination aus Schallplatte und Tonband („Schallband“) war das „Tefifon“, das die auf einer Bandkassette befindlichen Plattenrillen per Nadel abspielte und in den 1950er Jahren für das Langzeitabspiel verwendet wurde.

IASA aktiv - sie läuft und läuft und läuft…

Der Nachmittag bot als Gegensatz zum praktischen Teil die zwei Vortrags-Komplexe: „Aus den Tätigkeiten der IASA und ihrer Sektionen und Komitees“, moderiert von Kurt Deggeller und „Die internationalen Verbindungen der IASA“, moderiert von Jochen Rupp.

Zuerst stellte Pio Pellizzari das Komitee für Aus- und Weiterbildung vor und berichtete über die Bedeutung dieses Arbeitsfeldes für die weltweite Sicherung des audiovisuellen Erbes. Beispielgebend nannte er die Hilfe der Schweizerischen Nationalphonothek beim Aufbau der Fonoteca Nacional de México. Großen Hilfebedarf gibt es in Drittländern Asiens, Afrikas oder Lateinamerikas. Dabei ist es günstiger, die Ausbildung der Fachkräfte dorthin zu verlagern. Probleme entstehen durch die Fluktuation der frisch Ausgebildeten in die besser entlohnende Privatwirtschaft und die technische Alterung der verwendeten Geräte.

Danach folgte die Präsentation des Komitees für Diskographie (Discography Committee) durch den Vorsitzenden Filip Šír (Nationalmuseum Prag, ), der wegen persönlicher Verhinderung per Skype-Video zugeschaltet war. Er informierte über den 2015 in Paris eingeschlagenen Weg unter dem Motto „Connect, Collect and Collobarate“ mit dem Ziel, eine „International Bibliography of Discography“ online zu veröffentlichen. Dazu sollen Institutionen und Privatsammler zusammengebracht werden. Weiterhin wird eine Zusammenarbeit relevanter Verbände weltweit angestrebt. Beiträge können über folgende Links eingereicht werden:

https://goo.gl/forms/7CSLvQCkYl

https://www.wetransfer.com/?to=

Anschließend berichtete Albrecht Häfner über das Komitee für Technik (Technical Committee, TC), in dem er langjähriges Mitglied ist. Er würdigte die Verdienste von Dietrich Schüller, dem ehemaligen Direktor des Phonogrammarchivs, einem Institut der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und stellte die Publikationen aus der Reihe „Technical Guidelines: Standards, Recommended Practices and Strategies“ des TC in numerischer Reihenfolge vor, von denen TC 04 („Guidelines on the Production and Preservation of Digital Objects“, 2nd Edition) als Standardwerk gilt. Als Beispiel zeigte er TC 05 „Handling and Storage of Audio and Video Carriers“ (2014). TC 06 zum Thema Video ist in Vorbereitung.

http://www.iasa-web.org/technical-guidelines

IASA Verbindungen – der gute Draht

Die letzte Vortragsreihe mit dem Gesamttitel „Die internationalen Verbindungen der IASA“ an diesem Nachmittag eröffnete Catherine Lacken (Ressortleiterin Archiv-Service, SWR) mit ihren Ausführungen über das Coordinating Committee of Audiovisual Archives Associations (CCAAA). Dieses Kürzel steht sozusagen als „Formel“ für die Verbindung aller Schallarchive und deren Organisationen. Das CCAAA dient als Ebene für den Informationsaustausch, vertritt die Mitglieder auf internationaler Ebene, entwickelt Standards und Richtlinien, fördert die Ausbildung von Fachkräften besonders in bedürftigen Regionen der Welt und lenkt die Aufmerksamkeit auf die Bedeutung des audiovisuellen Erbes. Die Geschichte reicht bis 1980 zurück, als die UNESCO den „Schutz bewegter Bilder“ empfahl. Daraufhin wurde ein „Roundtable of Audiovisual Records“ gegründet, der 2000 in die CCCAA überging. Mitglieder sind die Association for Recorded Sound Collections (ARSC), Association of Moving Image Archivists (AMIA), International Federation of Film Archives (FIAF), Federation of Commercial Audiovisual Libraries (FOCAL International), International Federation of Television Archives (FIAT-IFTA), Southeast Asia-Pacific Audiovisual Archive Association (SEAPAVAA), das International Council on Archives (ICA) und die IASA. Die UNESCO nimmt in diesem Gremium einen Beobachterstatus ein.

http://www.ccaaa.org/

Ein „guter Draht” ermöglichte auch den nächsten Beitrag “Die Audiovisual and Multimedia Section (AVMS) der International Federation of Library Associations and Institutions (IFLA)“, der nun wieder per Internet in den Vortragssaal übertragen wurde, weil Margret Plank (Leiterin Kompetenzzentrum für nicht-textuelle Materialien, Technische Informationsbibliothek TIB Hannover) nicht persönlich anwesend sein konnte, dafür aber sehr lebendig per Video über die Aktivitäten und Projekte berichtete. Dazu stellte sie einführend die TIB vor. Ihre Spezialität sind u.a. Konferenzaufzeichnungen, deren Inhalte mit den Methoden der Sprach-, Bild- und Texterkennung erschlossen und dokumentiert werden. Die digitale Langzeitarchivierung ist dabei Teil der Gesamterhaltungsstrategie der TIB. Ein Baustein der TIB ist die Gremienarbeit u.a. in der IFLA, der IASA oder dem Netzwerk Mediatheken. Die AVMS der IFLA hingegen ist das Forum für die Arbeit mit Non-Book-Medien und der Bewahrung dieses kulturellen Erbes, das deren Sammlung, die Katalogisierung und die Schaffung von Zugangsmöglichkeiten einschließt. Sie fördert die Entwicklung von Fachwissen in Bezug auf den Bestandsaufbau, die physisch-technische Beschaffenheit, Formate und Inhalte, Rechtsfragen oder Regelwerke zur Erschließung. Konkrete Aktivitäten der AVMS bestehen aus der Information über ihre Arbeit (u.a. mit der Veröffentlichung eines Artikels bei Wikipedia), der Überarbeitung von Richtlinien, Bereitstellung von Informationen zur Medienkompetenz, Einrichtung von Workshops zur Bestandserhaltung oder der Verwendung von Short-Videos (Tutorials) dazu.

http://www.ifla-av-legal-deposit-form.iasa-web.org/

http://www.ifla.org/about-avms

MPS – Most Perfect Sound

Bevor dieser Nachmittag mit einer längeren Filmvorführung beendet wurde, sprach Reiner Ziegler von der Landesfilmsammlung Baden-Württemberg in Stuttgart über „Das Haus des Dokumentarfilms“ und gab eine Einführung in das anschließende zweiteilige Filmprogramm. Die Landesfilmsammlung e.V. befindet sich im Haus des Dokumentarfilms, wird vom Land Baden-Württemberg getragen, betreut historische Bestände und erschließt diese zur Nutzung bzw. kommerziellen oder nichtkommerziellen Verwertung. Danach zeigte er zwei Filme. Der erste Streifen mit dem Titel: „Mehr ,Life‘ mit SABA“ stammte aus dem Jahr 1972. Der Fernsehmoderator Rainer Günzler stellt darin die Villinger Rundfunkgerätefirma SABA (Schwarzwälder Apparate-Bau-Anstalt) mit ihrem Kaufmännischen Geschäftsführer Hermann Brunner-Schwer (1929-1988) vor. Er war der Bruder des Technischen Geschäftsführers der SABA-Werke Hans-Georg Brunner Schwer (1927-2004), der als Tonmeister, Musikproduzent und Besitzer des Plattenlabels MPS (Musik Produktion Schwarzwald) bekannt ist. Der zweite Filmbeitrag war eine Produktion des SDR (SWR) aus dem Jahr 1991 mit dem Titel „Karl Ebert – Erinnerungen eines Rundfunkpioniers“. In diesem Film erinnert sich der Regisseur und Schauspieler Karl Ebert in einem Interview mit Hans-Ulrich Reichert an die Anfänge von Rundfunk und Fernsehen beim Süddeutschen Rundfunk. Bei der nachträglichen Recherche zu diesem Film halfen mir Reiner Ziegler und Catherine Lacken, so dass ich etwas über die tiefe Erschließung und Katalogisierung im Archiv des SWR-FS Stuttgart erfahren konnte, die z. B. aus Elementen wie Titel, Sende-/Haupttitel, Unter-Titel, Beschränkungen, Rechte, Plan- und Sendedaten, beteiligte Personen, Sachinhalt, Bildinhalt und einer vielseitigen Verschlagwortung besteht.

Die Tagung bot nicht nur köstliche Klänge, sondern auch schmackhafte Köstlichkeiten. Nach den bewegten Bildern war es Zeit, sich zum traditionellen geselligen Beisammensein ins nahegelegene Naturfreundehaus Steinbergle zu begeben, wo es die Gelegenheit zum Verzehr schwäbischer Spezialitäten gab, die auch in recht abwechslungsreicher Form als Hefezopf, Brezel, Maultaschen oder Spätzle während der Kaffee- und Mittagspausen angeboten wurden. Dafür sei den Organisatoren ein besonderes Dankeschön ausgesprochen.

Wir haben einen neuen Vorstand

Die Mitgliederversammlung am Samstagvormittag, dem zweiten Tag der Tagung, bot zukunftssichere Aussichten, weil sich der neu gewählte Vorstand zusammen setzen konnte. Nach den regulären Tagesordnungspunkten gab der bisherige Vorsitzende Pio Pellizzari seinen Bericht, in dem er den Organisatoren der aktuellen Tagung in Stuttgart, Johannes Gfeller und Kurt Deggellerer, dankte. Er berichtete von der Internationalen IASA-Tagung 2016 in der Library of Congress, die 160 Teilnehmer verzeichnen konnte und gab einen Ausblick auf die „48th Annual Conference“ der internationalen IASA vom 17. bis 22. September 2017 in Berlin.

http://2017.iasa-web.org/

Der Sekretär ad interim Kurt Deggeller bat anschließend um die rege Beteiligung am e-mail-Versand der Vereinsmitteilungen sowie um ein stärkeres Feedback auf die elektronische Post.

Die Berichte der Schatzmeisterin Anke Leenings und ihrer Kassenprüfer Peter Brand und Albrecht Häfner legten die Kassenlage offen und zeigten ein übersichtliches und korrektes Finanzwesen im Verein.

Nach der Entlastung des bisherigen Vorstandes gab Michael Crone das Ergebnis der Abstimmung über die Satzungsänderungen bekannt, die mehrheitlich angenommen wurden. Mit der geänderten Satzung kann der Verein flexibler auf die veränderten Bedingungen in der ehrenamtlichen Gremienarbeit reagieren.

Bevor es an die Behandlung der künftigen Aufgaben ging, stellten sich die Mitglieder des Vorstandes für die Amtszeit 2016 bis 2019 vor.

Zum Abschluss der Mitgliederversammlung teilte Frank Wonneberg im Punkt Öffentlichkeitsarbeit mit, dass zu Beginn des Jahres 2017 die nächste Ausgabe des Vereinsmagazins „Schall und Rauch“ erscheinen wird. Dieser TOP wurde mit dem Hinweis auf das neue Logo auf der Website der IASA International ergänzt.

Zur Ausrichtung der Tagung 2017 sprach Albrecht Wiedmann vom Ethnologischen Museum Berlin, das Gastgeber für die nationale Tagung sein wird. Die Tagung der Ländergruppe Deutschland/Schweiz soll am 15. Und 16. September 2017, also zwei Tage vor der internationalen IASA-Tagung, stattfinden.

Eine kleine Schwarzwaldfahrt

Nach der Mitgliederversammlung bot der nächste Tagungskomplex „Beiträge zur regionalen Geschichte der audiovisuellen Medien“, die von Claus Peter Gallenmiller moderiert wurden. Am Anfang beschrieb Tobias Fasora (Historisches Archiv, SWR) den Werdegang des „Reichssenders Stuttgart“ und untersetzte dies mit beeindruckenden Bildern von der historischen Technik. Immerhin gehörten die „tönenden Wellen“ des Rundfunks zusammen mit dem lenkbaren Luftschiff zu den Wundern der damaligen Zeit. Aufschlussreich  war auch das Foto eines Senderaumes mit Schellackplatten-Abspielmöglichkeit. Das Knistern der Plattenrillen und das der atmosphärischen Geräusche mögen damals ein recht ordentliches akustisches Lagerfeuer in den Empfängern erzeugt haben. Mit Programmzeitschriften hatte der Rundfunk vor dem Fernsehen auch schon ein visuelles Standbein.

Eine rechte Gaumenfreude für die Sammler-Experten war der Beitrag „Die Stuttgarter Phonoindustrie“ von Uwe Steinle (Süd-Deutsches Radiomuseum, Hardthausen am Kocher). Das Süd-Deutsche Radiomuseum entsteht zur Zeit durch den Umzug des Radio-Museums Remseck nach Hardthausen und befasst sich mit dem Radio und seinen verwandten Gebieten. Mit der Stuttgarter Phonoindustrie verbindet sich der Name des regen Erfinders Albert Ebner (1891-1956). Dem Gründer der Firma Electromophon wird unter anderem die Entwicklung des ersten elektrischen Grammophonmotors 1919 zugeschrieben. Ebners Betrieb fusionierte mit der Firma Perpetuum in St. Georgen/Schwarzwald und stieg mit dem "Perpetuum Ebner" (PE) zu einem der wichtigsten Phonotechnikhersteller der Zeit auf. Seine Electromusik GmbH experimentierte zunächst mit unzerbrechlichen Kunststoff-Schallplatten, dann wurden Schellackplatten unter den Labels Elton und Electromusik hergestellt. Die Spezialisten im Auditorium konnten die im Beitrag vorkommenden Schellackplatten mit ihren verschiedenen Labels und Nummern recht gut identifizieren und bemerkten, dass ein Orchester unter verschiedenen Namen aufspielte.

http://www.radiomuseum.org

Nahtlos schloss sich nun der Vortrag: „80 Jahre Phonoindustrie (Steidinger, Perpetuum Ebner, DUAL, Papst Motoren …)“ von Helmut Mellert und Jürgen Weisner (Deutsches Phonomuseum, St. Georgen) an, die einen Film über das einzigartige Deutsche Phonomuseum in St. Georgen zeigten. Dieses „Must Have“ in der Liste der noch zu besuchenden Ausstellungen wurde schon 1972 gegründet und zeigt auch die enge Verknüpfung zu den Firmen Dual und PE. Eine Uhrensammlung zeigt, dass die frühen Grammophonkonstrukteure bei der Suche nach präzisen Antrieben in der Schwarzwälder Uhrmacherei fündig wurden. Deshalb gibt es dort auch ein Schwarzwaldhäuschen als Plattenspieler. Die Titelzeile dieses Berichts bezieht sich auch auf eine Seltenheit. In den achtziger Jahren baute die Firma Dual einen Überkopf-Plattenspieler. Dieses „weltraumtaugliche“ Gerät spielt seine Platte trotz Drehung um alle Raumachsen weiter! Dual brachte aber auch praktisch weit verbreitete Neuheiten, wie den Tangential-Tonarm oder den Direktantrieb auf den Markt.

www.deutsches-phono-museum.de

Ich will keine Schokolade…

Detlef Humbert lud nach der Mittagspause zum „Offenen Forum“ ein, das Prof. Dr. Ulf Scharlau mit dem Vortrag „Die Odyssee der Schellacks - Recherchen zu Thomas Manns Schallplattensammlung und Besuch im Haus Kilchberg im Auftrag des S. Fischer-Verlags 1971 und 1973“ eröffnete. Ulf Scharlau berichtete im Rückblick über seine einstigen Recherchen (1971/72)  zur Geschichte der Schallplattensammlung von Thomas Mann in Kilchberg bei Zürich, seit 1952 der letzte Wohnort des Autors, die im Auftrag des S. Fischer-Verlags und des Deutschen Rundfunkarchivs (DRA) erfolgten. Die Sammlung wurde um 1985 vom DRA übernommen. Weitere in Thomas Manns einstigem Exil in USA verbliebene Schallplatten wurden 1996/97 vom Deutschen Musikarchiv angekauft. Scharlau empfiehlt eine Gesamtdokumentation der Tonträger, unabhängig vom Archivierungsort, als einen Erkenntnisgewinn für die Thomas Mann-Forschung. Eine ausführliche Darstellung seines Berichts für die Zeitschrift „Schall & Rauch“ ist vorbereitet.

Einen großen Sprung von den Schellacks zum Vinyl und damit gleich zum Rock'n' Roll machte Ulrich Duve (Klaus Kuhnke-Archiv für Populäre Musik, Bremen) mit seinem Bericht „Der Nachlass von Werner Voss, einem Hamburger Rock'n' Roll Experten“.  Der 2013 verstorbene Moderator der NDR-Radiosendung "Rock'n'Roll Museum" erlangte Kultstatus. Seine Sammlung mit einer Größe von ca. 50.000 Einheiten enthält viele Raritäten und Erinnerungsstücke. Sie dokumentiert alle Sendungen des NDR mit Werner Voss in mehreren Bänden, ist wohlgeordnet und befindet sich in einem bemerkenswert guten Zustand. Laut Testament soll sein Nachlass in das Klaus-Kuhnke-Archiv für Populäre Musik übergehen.

Und wieder zurück zu den Schellackplatten drehte sich der Themenkreis, den Jürgen Grzondziel (Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden SLUB) mit der „Standardisierung von Erschließungsdaten digitalisierter Tonträger in wissenschaftlichen Sammlungen“ nun aus bibliothekarisch-digitaler Sicht betrachtete. Gegenstand des inzwischen abgeschlossenen Projekts sind die Entwicklung eines Datenformats und die Erarbeitung einer Normdatei. Tonaufnahmen sollen in bereits bei Blattausgaben etablierten, internationalen Datenformaten (METS, MODS) abgebildet werden. Digitalisierte Tonträger werden in Zukunft wie bisher digitalisierte Handschriften, Printmedien und Fotographien darstellbar sein. Das DFG-Projekt „Archiv der Stimmen“ von 2012-2014 hatte das Ziel, 8500 Schellackplatten mit ca. 17000 Aufnahmen zu digitalisieren und zu katalogisieren. Das Kernstück ist die Sammlung Paul Wilhelm mit ca. 4000 Platten und 4500 Gesangsaufnahmen (Oper; Oratorium; Kunstlied; Volkslied). Als Ergebnis liegen 8519 Schellackplatten digitalisiert und katalogisiert vor. Die zwei Teilprojekte sind METS (Metadata encoding and transmission standard) und MODS (Metadata object description schema) für digitalisierte Tonträger/Audiofiles einerseits sowie die Integration von Tonaufnahmen in die Gemeinsame Normdatei (GND, Diskografische Normdatei) andererseits. Das maschinenlesbare Austauschformat METS/MODS xml liefert Informationen über verknüpfte Files (audios, pics, etc.), deren Struktur, die technischen Prozesse, den Inhalt (deskriptive Metadaten) und die Rechte (Copyright, etc.) mit der Möglichkeit der Einbindung verschiedener (Format-)Quellen und den DFG-Viewer zur Langzeitarchivierung in die Deutsche Digitale Bibliothek und Europeana.

http://www.slub-dresden.de/ueber-uns/projekte/weiterethemenbereiche/standardisierung-erschliessungsdaten-tontraeger/

Der Vortrag „Kindertonträger in der Sammlung ‚Kindermedienwelten‘ des Instituts für angewandte Kindermedienforschung (IfaK) an der Hochschule der Medien Stuttgart“ von Prof. Dr. Manfred Nagl musste leider wegen Krankheit ausfallen.

Die Kölner Schauspielerin und Schlagersängerin Trude Herr hätte 1960, als sie ihre Hit-Zeile „Ich will keine Schokolade“ mit „ich will lieber einen Mann“ ergänzte, nicht geglaubt, was mit der verschmähten Schokolade Jahrzehnte später so alles angestellt wird. Spätestens hier wäre sie bestimmt schwach geworden und hätte lieber zur Platte gegriffen oder sich den aufgrund vielseitigen Wunsches aktualisierten Vortrag „Der Boom der Vinylschallplatte (auch unter dem Aspekt der Gaumenfreude)“ mit Beköstigung durch Jochen Rupp gegönnt. Seit 2007 wächst die Schar der Liebhaber der nichtessbaren LP. Obwohl ein Boom marktstatistisch nicht bewiesen werden kann2), ist die gefühlte Bedeutung des Vinyls weit größer. Rund um die Platte dreht sich zusätzlich die Palette der Hardware vom Presswerk über die LP-Waschmaschine bis zum optischen Abtastsystem. Gerade bei den Pressmaschinen sind neue Technologien in Aussicht. Sogar abgenutztes Vinyl existiert als Handtasche, Visitenkarte, Schlüsselanhänger oder Keksschale weiter. Zusätzlich präsentierte er ein essbares Anschauungsbeispiel aus Schokolade, dem ein nicht nachahmenswerter historischer Filmspot über die Gaumenfreude eines Schellackplattenessers voranging. Die (wirklich!) essbare (und schmackhafte) Schokoladenschallplatte ließ dann auch tatsächlich das Badnerlied mit der Stadtkapelle St. Georgen erklingen.

Im Schlussteil der Tagung befassten sich die Teilnehmer, moderiert von Prof. Dr. Michael Crone, mit den Zukunftsperspektiven der Vereinigung.

Kurt Deggeller und Rudolf Müller (Memoriav) zeigten eine lange Kette von Fakten, die „Die Schweiz auf dem Weg zu einer gesetzlichen Archivierungspflicht für Rundfunkveranstalter“ vorzuweisen hat. Die Initiativen zum Archivierungsgesetz begannen 1982 und mündeten 2016 im revidierten RTVG (Das revidierte Radio- und Fernsehgesetz) und RTVV (Umsetzung der neuen Radio- und Fernsehverordnung). Damit sind ein Systemwechsel bei der Empfangsgebühr und die Diskussion privater Anbieter verbunden.

Wohin geht der Weg der Ländergruppe IASA Deutschland/Schweiz e.V.?

Die Mitglieder des neuen Vorstands nutzten zum Abschluss der Tagung die Gelegenheit, sich dazu zu äußern. Die Aspekte der zukünftigen Arbeit sahen sie im Finden von Nachwuchs bei gleichzeitigem Dialog mit den „alten Hasen“ der IASA, in der Einbeziehung von Social Media, in der Zusammenarbeit von Privatsammlern und Institutionen, in den Beziehungen zu anderen Einrichtungen, in der Schaffung von Patenschaften sowie der Gewinnung von Mitgliedern und Tagungsteilnehmern.

Die Schlussworte des scheidenden Vorsitzenden der Ländergruppe Pio Pellizzari enthielten den Dank an die Initiatoren und Organisatoren der Tagung sowie die gastgebenden Verantwortlichen Frau Butsch mit ihrem Team sowie Prof. Gfeller mit hilfsbereiten Studenten und entließen die Tagungsgäste akustisch, kulinarisch und visuell bereichert in ein spannendes neues Vereinsjahr, das uns mit der Doppel-Tagung in Berlin entgegenschallt.

P.S. Wie angekündigt, fand die historische Quelle vom Beginn dieses Berichts ca. 100 Jahre später ihre “höhere“ Auflösung:

Pluralistischer Zeitgeschmack

Hundert Jahre waren sie eingemauert, nun sind die phonographischen?Hinterlassenschaften aus dem Palais Garnier auf CD erhältlich

…Vor zwei Jahren ist die Hundertjahresfrist abgelaufen, und man hat sich im Keller der Opéra der phonographischen Hinterlassenschaft angenommen. Es stellte sich heraus, dass in der Zwischenzeit «Grabräuber» in den verschlossenen Aufbewahrungsort eingedrungen waren und das Grammophon und den Inhalt von einem der 1912 deponierten Gefäße entwendet hatten; außerdem waren einige der Schallplatten zerbrochen. Anhand von Listen, auf denen alle Titel und Interpreten der deponierten Tonträger aufgeführt sind, konnte die gesamte Sammlung rekonstruiert werden.

EMI, die Rechtsnachfolgerin der Grammophone Company, hat die zu Beginn des 20. Jahrhunderts konservierten Dokumente nun in einer Edition mit dem Titel «Les Urnes de l’Opéra» herausgebracht, wobei man für deren Digitalisierung aus konservatorischen Gründen auch auf andere, klanglich identische Exemplare der Schallplatten zurückgriff…

Stefan Domes
März 2017