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Bericht über die IASA-Jahrestagung 2002

08. bis 09. November 2002 in Lugano

Programm

Freundliches Herbstwetter in Lugano - die Einladung unserer Schweizer Kollegen zur Jahrestagung 2002 der Ländergruppe hatte nicht zu viel versprochen. Hiervon und von den Fähigkeiten des Teams der Schweizerischen Landesphonothek (Fonoteca Nazionale Svizzera), eine Tagung der auf dem Gebiet audiovisueller Archivierung tätigen Sammler und Institutionen perfekt zu organisieren, konnten sich mehr als 50 Mitglieder und Gäste mit eigenen Augen und Ohren überzeugen. Die Mischung aus noch alpenländischer und schon mediterraner Umgebung tat ein Übriges, um diese Tagung im italienischsprachigen Tessin in angenehmster Erinnerung zu behalten.

Pio Pellizzari, Direktor der Fonoteca, und Antonio Riva, Präsident des Stiftungsrats der Fonoteca, begrüßten die Tagungsteilnehmer im Ende 2001 neu bezogenen ehemaligen Priesterseminar. Kurt Deggeller, Vorsitzender der IASA-Ländergruppe und seit September auch Präsident der internationalen IASA, dankte dem Organisationsteam vor Ort für die Ausrichtung der Tagung und freute sich, an der Stätte eigener „fast 15jähriger phonothekarischer Aufbautätigkeit die Kontinuität des Schutzes des AV-Kulturguts″ gewahrt zu sehen.

In seinem Einführungsvortrag gab Pio Pellizzari einen historischen Abriss von der ersten Studie über die Notwendigkeit einer Landesphonothek für die Schweiz im Jahr 1977 bis zur Gegenwart der Fonoteca, deren Bestand etwa 120.000 katalogisierte und rund 80.000 noch nicht erfasste Tonträger aller Formate umfasst. Vier Fünftel des Bestands sind musikalische Werke, gemäß dem Sammelauftrag in erster Linie Helvetica, also Aufnahmen mit inhaltlichem bzw. historischem Bezug zur Schweiz und ihrer Kultur. Vielfältige Projekte und Kooperationen dienen der Erfüllung dieses Auftrags. Pellizzari lud alle Anwesenden zur Teilnahme an einer der während der Tagung angebotenen Führungen durch die Fonoteca ein.

Der erste Themenschwerpunkt der Tagung beschäftigte sich mit der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) in Geschichte und Gegenwart. Theo Mäusli, Leiter des Projekts Geschichte der SRG, beschrieb die Aufgaben und Aktivitäten dieses Forschungsvorhabens, das den Zeitraum von 1958 bis 1982 umfasst. Das Vorläuferprojekt erforschte die Geschichte der SRG bis 1958, dem Zeitpunkt der Einführung des Fernsehens in der Schweiz. Das Jahr 1982 markiert den Beginn des dualen Systems von öffentlich-rechtlichem und privatem Rundfunk. Kernfrage des Projekts ist, ob und wie Radio und Fernsehen im Untersuchungszeitraum zum vielfältigen gesellschaftlichen Wandel in der Schweiz beigetragen und diesen möglicherweise „beschleunigt, beeinflusst oder gefärbt″ haben. Eine aus einem wissenschaftlichen Textband und einem Bildband mit Zusammenfassung der Ergebnisse bestehende Buchveröffentlichung wird das auf fünf Jahre terminierte Projekt im Jahr 2006 abschließen.

Geschichte aus dem Lautsprecher- Ton- und Videodokumente als Quellen der Kommunikations- und Medienforschung lautete der Titel des Vortrags von Edzard Schade vom Institut für Publizistik und Medienwirtschaft (ipmz) in Zürich. Im ersten Teil seines Beitrags verdeutlichte der Referent die Bedeutung dieser Aufzeichnungen als „Konzepte medialer Wirklichkeitskonstruktionen″, deren Wandel dank der Archivierung von Sendungen und anderen Dokumenten analysiert werden könne. Konkrete Projekte des Instituts beziehen sich auf die Programmgeschichte der Bereiche Radio, Fernsehen und Online, auf die Geschichte des Hörens, insbesondere die Auswirkungen von Veränderungen und Innovationen auf die Rezipienten des Programms.

Rudolf Müller, Memoriav Bern, zeigte in seinem Überblick über den Stand der Digitalisierung in den Radiostudios der SRG, wie im föderativen Schweizer System mit vier Landesregionen und fünf Unternehmen die Integration von Unternehmenszielen und der Bedeutung des Programmvermögens als Kulturgut bewerkstelligt wird. An Beispielen wie etwa der Kooperation von SRG und dem Verein Memoriav zur Erhaltung des audiovisuellen Kulturerbes der Schweiz, dem multimedialen Projekt „SIRANAU″ bei Radio Suisse Romande, dem Projekt des Schweizer Radio DRS zum Aufbau eines Audio Content Management Systems für drei Haupt- und drei Regionalstudios sowie dem Massenspeicherprojekt von Radio Rumantsch in Chur und weiteren Vorhaben wurde der Fortschritt der Digitalisierung in den Schweizer Rundfunkarchiven sichtbar.

Den Blick - von Lugano aus gesehen - nach Deutschland, genauer: auf die Aktivitäten des Südwestrundfunks (SWR) zum Aufbau eines digitalen Audiomassenspeichersystems, lenkte anschließend Albrecht Häfner, Dokumentation und Archive des SWR in Baden-Baden. Nach einem Rückblick auf die „Vorgeschichte″ seit etwa 1990, die geprägt war vom Wechsel von der analogen zur digitalen Tonträgerwelt, beschrieb Häfner detailliert die auf diesen Erfahrungen beruhende Vorbereitung von der Erstellung des Anforderungskatalogs bis zum Beginn der Realisierung und zu Fragen des Projektmanagements.

Auf der vorigen Jahrestagung in Berlin hatte Pio Pellizzari bereits erste Ergebnisse eines bemerkenswerten Forschungsprojekts des Schweizerischen Nationalfonds vorgestellt: In diesem Jahr präsentierte er gemeinsam mit Stefano Cavaglieri von der Fonoteca und Prof. Ottar Johnsen, Ecole d'Ingenieures de Fribourg, den aktuellen Stand von Visual Audio - wie das Abbild der Schallplatte zum Klingen gebracht werden kann. Diese Idee, durch Fotografie der Oberfläche einer Schellack- oder Langspielplatte das darauf gespeicherte Schallereignis - nötigenfalls über sehr lange Zeiträume hinweg - zu sichern, bis kostengünstige oder verbesserte Digitalisierungsverfahren verfügbar sind, wurde in der Zwischenzeit durch verfeinerte fotografische Technik vorangebracht. Ottar Johnsens wissenschaftliche Mitarbeiter Christophe Sudan und Sylvain Stotzer demonstrierten dem beeindruckten Publikum den aufwändigen technischen Ablauf, an dessen Ende gegenwärtig eine neuwertige Langspielplatte mit dem Klangeindruck einer älteren Schellackplatte wiedergegeben werden kann. Auch die sonst verlorene Information auf nicht mehr abspielbaren Platten kann mit dem Visual Audio-Verfahren gerettet werden.

André Scheurer, bei Swiss Satellite Radio „Macher″ der Spartenprogramme der SRG/SSR idée suisse, stellte seine drei Produkte „Radio Suisse Classic″, „Radio Suisse Pop″ und „Radio Suisse Jazz″ vor. Am Beispiel der Klassiksparte wurde verdeutlicht, wie auf der Basis von Hörerumfragen und Auditoriumstests (120 Klassikliebhaber beurteilen bei einem gemeinsamen „Hörabend″ 500 Musikbeispiele unter vorgegebenen Fragestellungen) ein sich an den Wünschen der Zielgruppe orientiertes Programm herstellen lässt. Die DV-gestützte Auswertung ermöglicht Aussagen, welche Programmmischung wie einsetzbar ist, aber auch, welche Instrumentenabfolge beim Hörer Missfallen auslöst und daher vermieden werden muss. Das Internet wird als Promotionsplattform und für Hörerservice genutzt. Datenbanken bieten hier vielfältige Informations- und Servicefunktionen wie Playlist, Live-Radio, Konzertdatenbank.
Den Ausklang des ersten Tages bildete eine Weinprobe im renommierten Weingut Zanini in Mendrisio, der ein gemütlich-rustikaler Abend mit anregenden Gesprächen und lokalen Spezialitäten in einem ortstypischen „Grotto″ folgte.

Der Samstag wurde von der Mitgliederversammlung der Ländergruppe eröffnet, in deren Verlauf Anke Leenings, Prof. Dr. Wolfgang Krueger und Pio Pellizzari zum Wahlausschuss zur Durchführung der Vorstandswahlen 2003 berufen wurden. Ein weiterer wichtiger Punkt der Tagesordnung war der Sachstand der gemeinsamen Arbeit am Projekt „Firmendiscographien historischer Tonträger (FDHT)" der Ländergruppe mit dem EU-Projekt „Sokrates″, worüber Christiane Hofer, Gesellschaft für historische Tonträger Wien, und Pio Pellizzari informierten. Als Host kann die leistungsstarke Datenbank FNBase 2000 der Fonoteca in Lugano genutzt werden, bei der Bild und Ton sehr einfach mit dem Textfile verknüpft werden können.

Im Offenen Forum stellte zunächst Thomas Gadmer, Phonogrammarchiv der Universität Zürich, die Publikation der ältesten Sprachaufnahmen des Phonogrammarchivs Zürich vor. Auf 12 Audio-CDs und drei CD-ROMs, begleitet von drei umfangreichen Booklets, sind 347 ab dem Jahr 1909 entstandene Dialektaufnahmen aller Schweizer Landessprachen dokumentiert. Eine Anzahl jeweils fest vorgegebener Sätze, die freie Erzählung nach einem Mustertext, Kindheitserinnerungen, Dorfereignisse, Mundartdichtung und vieles mehr bilden eine Sammlung von außerordentlichem wissenschaftlichen Wert, die in Öffentlichkeit und Presse hohe Resonanz erfuhr („ein kleines wissenschaftliches Wunder″). Die in Arbeitsteilung zwischen den Phonogrammarchiven Wien (Technik) und Zürich (Redaktion) entstandene Publikation wurde finanziert von Memoriav, dem Phonogrammarchiv Wien, dem Universitätsverein Zürich und des Robert J. F. Schwarzenbach-Fonds.

Zurück zu den Anfängen führte anschließend unser Schweizer Sammlerkollege Jürg König aus Pieterlen die Tagungsteilnehmer, denen er Erstaunliches und Amüsantes aus der Welt der Kuriositäten im Zusammenhang mit der Schallaufzeichnung präsentieren konnte. Zu seinen Schätzen zählt nicht nur eine tönende Briefmarke mit der Nationalhymne Bhutans, sondern auch eine Sondermarkenserie zur Eröffnung der Schweizerischen Landesphonothek. Der Haus- und Hofhund „Nipper″ der Deutschen Grammophon von den Anfängen als Karikatur bis zur Darstellung auf neueren Veröffentlichungen und ein bemerkenswerter Beitrag in einem Hausbuch des 17. Jahrhunderts zur Stimmkonservierung in einer „verstopften Röhre″ rundeten den kurzweiligen Vortrag ab.

Jürgen K. Mahrenholz, Humboldt-Universität Berlin, gab einen Beitrag zur wissenschaftlichen Erschließung von Sammlungen durch die Datenbank IMAGO. Der größte Teil der Sammlungen der Humboldt-Universität stammt von der naturkundlichen Fakultät. Als akustische Sammlungen existieren die Tierstimmenaufnahmen und das Lautarchiv des Musikwissenschaftlichen Seminars. Auf der Basis der damaligen Bilddatenbank wurde IMAGO 1996 als Datenbank begründet, deren Besonderheit in der interdisziplinären Verknüpfbarkeit ihrer Objekte liegt. So lässt sich parallel zum Anhören einer Vogelstimme aus dem Tierstimmenarchiv die Abbildung des dazugehörigen Präparats der ornithologischen Sammlung betrachten. Ziel ist, nach und nach alle etwa 30 Millionen Objekte der verschiedenen Sammlungen online verfügbar zu machen.

Ulrich Duve, Klaus-Kuhnke-Archiv für populäre Musik Bremen, präsentierte das Phonobuch, eine multimediale Kuriosität. Die Idee, gedruckten Text mit Klangbeispielen zu verknüpfen, wurde von der Deutschen Verlagsanstalt (DVA) auf der Frankfurter Buchmesse 1975 vorgestellt. Im ersten und einzigen aufgelegten Band des auf sechs Bände konzipierten Werkes „Zur Geschichte der populären Musik″ der Autoren Wilfried Grimpe und Klaus Kuhnke waren 34 Schallfolien in die entsprechenden Buchseiten integriert. Abgetastet wurden diese Folien mit Hilfe eines darauf gesetzten „Librophons″, in dessen Gehäuse von der Größe einer mittleren Konservendose eine sich drehende Nadel, ein Verstärker und ein Lautsprecher enthalten waren. Die Lizenzgebühren an den japanischen Patenteigner und Entwicklungskosten summierten sich zu 4 Millionen DM. Die DVA ging daran beinahe in Konkurs, und keines der insgesamt 100 hergestellten Exemplare kam je in den Handel. Das auf der Tagung präsentierte Stück überreichte Duve dem Deutschen Musikarchiv als Schenkung seines Instituts.

Die Beiträge aus der Schweizer Sammlerszene wurden von Willy Kyburz eröffnet, der in seinem Vortrag Gesangskunst - ein Sammlerbericht gekonnt Musikbeispiele mit persönlichem Werdegang verband. Die durch Einsätze als Statist an der Oper in Basel entfachte Liebe zur Vokalmusik ließ den gelernten Buchdrucker private Gesangsstunden nehmen. Da die Notwendigkeit, für das Einkommen einer Familie sorgen zu müssen, den Eintritt in eine Sängerkarriere verhinderte, begann Kyburz, Tonaufnahmen seiner Vorbilder zu sammeln. Als Beispiele konnten die Tagungsteilnehmer unter anderem Aufnahmen von Frieda Leider, einer Sopranistin mit großartigen Höhen, und von Leo Slezak, dem berühmten Wiener Heldentenor genießen.

Hans Peter Woessner, Lehrer aus Thalwil und bekannt als akribischer Schweizer Sammler, berichtete über Irrtümer, Missverständnisse und Rätsel - Abfallprodukte der Erforschung der Schweizer Schallplattengeschichte. Am Beispiel einer seit den 80er Jahren in seinem Besitz befindlichen RCA-Aufnahme der Schweizer Jodlergruppe „Die 7 Scheidegger" schilderte er in gewohnt unterhaltsamer und spannender Manier seine Detektivarbeit. Die Nutzung aller erdenklicher Quellen (wie alte Beherbergungslisten, persönliche Kontakte zu wieder aufgefundenen Nachkommen der Künstler, Briefwechsel mit internationalen Diskographen und nicht zuletzt das exorbitante eigene Gedächtnis) führte im heute dargestellten Fall zu der Erkenntnis, dass die vorliegende Aufnahme im Jahr 1928 zweimal aufgenommen wurde.

Den Abschluss der offiziellen Tagungsreferate bildete der Vortrag von Andreas Schmauder, Horben, zum Schweizer Jazz der 20er und 30er Jahre. Interpreten wie das Orchester Gil Batlle, Frank Guarente's Georgians, aber auch die 1. Berner Bauernkapelle nahmen in den frühen 20er Jahren vom amerikanischen Jazz beeinflusste Musik in ihr Repertoire auf, „ohne bereits wirklich Jazz zu spielen″. Ende der 20er hatten sich dann The Lanigiro Synkopating Melody Kings als „beste Hot Band der Schweiz″ etabliert. Die Tatsache, dass aber insgesamt wenig Schweizer Jazzaufnahmen aus der Zeit bis zum Ende der 30er Jahre existieren, liegt, wie Schmauder anmerkte, „wahrscheinlich im Problem des Fehlens einer eigenen Schallplattenindustrie in kleineren Ländern″ begründet.

Im gediegenen Hotel Dante hatten unsere Gastgeber zum Ausklang der Tagung ein paar besondere Leckerbissen vorbereitet. Pio Pellizzari zeigte am Beispiel einer Aufnahme der wunderbaren Sängerin Tati Casoni, die über 80jährig heute unweit der Fonoteca lebt, wie nach 1944 Platten-Recycling betrieben wurde. „Polvere di stelle″ - Hoagy Carmichael's „Stardust″ - von Tati Casoni etwa im Mai 1945 für eine Werbeplatte eines italienischen Schönheitsartikelherstellers gesungen, ziert die Rückseite einer unbrauchbar gemachten Hörspielszene der Reichsrundfunkgesellschaft vom März 1944.

Marcello Sorce Keller, Inhaber eines Lehrstuhls für Musikethnologie in Mailand, schlug in seinem Vortrag „Volkslied oder abgesunkenes Kulturgut?″ mit sehr gelungener humoristischer Note den Bogen zwischen Hochkultur und Volkskultur. Im ersten Teil seiner Ausführungen klärte er die Bedeutung einiger klassischer deutscher Kunstlieder (Brahms, Weber) als Volkslieder, ließ die Zuhörer im zweiten Teil am Auffinden von Donizetti- und Verdi-Arien in den Gesängen der italienischen Landbevölkerung teilnehmen und beschloss seine äußerst kurzweilige Lektion mit einer von Klaus Wunderlich auf der Hammondorgel verpopten Rigoletto-Arie.

Zu guter Letzt konnte Kurt Deggeller ein dank Memoriav restauriertes SEPMAG-Filmtonband mit dem dazugehörigen Film vorführen. Die dem Vinegar Syndrome entrissene Rarität dokumentierte die ebenso triumphale wie bewegende Rückkehr von Maria Callas an die Mailänder Scala mit Donizetti's „Poliuto″ im Jahr 1961 und bildete den würdigen Abschluss für eine rundum gelungene und vom gesamten Schweizer Organisationsteam perfekt durchgeführte Tagung.

Gastgeber der nächsten Jahrestagung der IASA-Ländergruppe Deutschland/Deutschschweiz e. V. wird vom 24. bis 25. Oktober 2003 das Deutsche Rundfunkarchiv am Standort Potsdam-Babelsberg sein.

Detlef Humbert
Sekretär der IASA-Ländergruppe Deutschland/Deutschschweiz e. V.