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Bericht über die IASA-Jahrestagung 2010

08. und 09. Oktober 2010 in Dresden

Programm

Im Jubiläumsjahr der im April 1990 gegründeten IASA-Ländergruppe war die Kulturmetropole Dresden würdiger Veranstaltungsort. Der Einladung der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) folgten rund fünfzig Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Marc Rohrmüller, Leiter der Mediathek der SLUB, hatte mit seinem Team alles bestens vorbereitet und konnte eine Reihe höchst interessanter Vorträge sowie, als gelungenes Intermezzo zwischen den beiden Konferenztagen, eine stimmungsvolle Abendführung durch die Meisterwerke der Dresdner Architektur präsentieren.

Den Samstagmorgen eröffnete als Hausherr Prof. Dr. Thomas Bürger, Generaldirektor der SLUB. Musikalisch eingeleitet durch Vivaldis „Bibliothekshymne″, als Faksimile zugleich auf dem selten gezeigten Vorhang des Vortragssaales zu sehen, betonte Prof. Bürger, eine solche Begrüßung dürfe natürlich niemals ohne „Schall″ vonstatten gehen. In einer kurzen „Diashow″ zeigte er den Werdegang seines Hauses vom Japanischen Palais bis zum nach der Zerstörung im Zweiten Weltkrieg durch die Wiener Architekten Ortner & Ortner entworfenen Neubau, der seinerzeit „den Dresdnern aber nicht barock genug″ gewesen sei. Bürger streifte einige der außerordentlichen Schätze der Bibliothek wie die Handschriften des legendären Maya-Codex oder des Sachsenspiegels, wies auf den Millionenbestand der Deutschen Fotothek hin und hob die „mediale Verschränkung″ als „spannendes Zukunftsthema″ hervor. Zum Abschluss seines Begrüßungsvortrages rief er den Anwesenden zu: „Schall und Rauch – Sie sind ganz richtig hier!″

Und dieses Gefühl verließ die Tagungsteilnehmer bis zum Ende der gelungenen Veranstaltung dann auch zu keiner Zeit. Nach einer herzlichen Begrüßung durch Herrn Rohrmüller erwiderte Pio Pellizzari als Vorsitzender der Ländergruppe die Grüße und guten Wünsche. Namentlich hieß er Frau Dr. Gabriele Fröschl und Herrn Hofrat Dr. Rainer Hubert als Vorstandsvertreter der Schwesterorganisation Medien Archive Austria, Herrn Reinhard Haida als ehemaligen und Herrn Marc Rohrmüller als aktuellen Leiter der Dresdner Mediathek willkommen. Zugleich überbrachte Pellizzari als Vice President der internationalen IASA auch die Grüße und Glückwünsche des Executive Board zum 50jährigen Bestehen der Österreichischen Mediathek und zum Jubiläum unserer Ländergruppe.

Marc Rohrmüller moderierte den ersten Themenblock des Tages, Die Sächsische Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden. Er gab einen Überblick von der Gründung 1556 durch Kurfürst August und dessen Auftrag, Bücher seriell zu sammeln, bis zur digitalen Sammlung, die den entscheidenden Schritt zur Demokratisierung darstellt, indem Hemmschwellen abgebaut werden und die Bestände „zum Nutzer kommen″. Eine Sammlung, deren Bedeutung stetig steigt, ist die Mediathek mit gegenwärtig rund 225.000 Medien. Entstehungsgeschichtlich fest mit dem Namen Martin Bollert verbunden, der in den Jahren von 1920 bis 1937 ihren Aufbau entscheidend prägte, besitzt die Mediathek so bedeutende Sammlungen wie den Nachlass des Malers und Schellacksammlers Paul Wilhelm oder eine 400 Stunden Rohmaterial umfassende Videodokumentation des vollständigen Bauverlaufs der Dresdner Frauenkirche seit dem Beginn ihres Wiederaufbaus. Sichtbare Vernetzung und Medienvielfalt, gezeigt an Beispielen Robert Schumanns und Gottfried Kellers Kleider machen Leute, stellen die Eckpfeiler der erfolgreichen Arbeit der Mediathek dar.

Dr. Katrin Bemmann stellte das von ihr und einer weiteren Musikwissenschaftlerin an der SLUB betreute Projekt Schranck No: II – Klangdokumente aus einem halben Jahrhundert vor. Aus der „kulturellen Hoch-Zeit″ der sächsisch-polnischen Union (1697-1763) enthält diese Sammlung rund 1.750 Notendokumente, darunter die Autographen von 193 Komponisten (z. B. Vivaldi, Telemann und Fasch), Abschriften, Stimmensätze und etwa 400 anonyme Handschriften (etwa das dem Tagungspublikum in einer Einspielung vorgestellte Oboenkonzert eines unbekannten Meisters). Im Rahmen des DFG-Projekts wird dieser einzigartige Bestand kategorisiert, inhaltlich beschrieben und digitalisiert. Bemmann hob exemplarische Einspielungen von „Schranck II-Beständen″ aus den 1980er Jahren (Güttler mit Virtuosi Saxoniae), der 1990er Dekade (Goebel mit Musica Antiqua Köln oder dem Freiburger Barockorchester) und ab 2000 (z. B. der Batzdorfer Hofkapelle) heraus. Ihren ebenso anspruchsvollen wie kurzweiligen und stimmungsvollen Vortrag rundete die Referentin mit Hörbeispielen der Komponisten Fasch, Graun, Zelenka und nicht zuletzt Pisendel ab, der als Konzertmeister in der Hofkapelle unter Hasse als Urheber der Schranck No: II – Sammlung bezeichnet werden darf.

Das Archivzentrum Hubertusburg stellte Stefan Gööck vom Sächsischen Staatsarchiv vor. Das in Sachsens größter erhaltener barocker Schlossanlage beheimatete Archivzentrum ist Teil des auf verschiedene Standorte verteilten Sächsischen Staatsarchivs und beherbergt in seinen großzügigen Räumen allein hundert laufende Regalkilometer Papierarchivgut aus den vergangenen tausend Jahren. Hinzu kommen Fachabteilungen wie Papierrestaurierung, Reprografie oder das Sachgebiet AV-Medien. Die AV-Bestände umfassen unter anderem Archive und Sammlungen von Behörden, abgewickelten Kombinaten und kleinen professionellen Medienproduzenten, Oral History aus dem Bereich des Bergbaus, Redemitschnitte von DDR-Bezirkstagen oder den nach 1950 aufgebauten „Stadtfunk Leipzig″, der über Lautsprecher an öffentlichen Plätzen und Haltestellen Werbung und Propaganda verbreitete. Als „Inflation der Medienformate″ bezeichnete der Referent die außerordentliche Vielfalt der hier lagernden Bestände und beschrieb als Beispiel für „proprietäre Systeme im Behördeneinsatz″ das unter anderem beim Jahrhunderthochwasser 2002 eingesetzte „Wordsafe″. VHS-Kassetten wurden im Multiplexing-Verfahren für die polizeiliche Aufzeichnung von Notrufen eingesetzt und enthalten jeweils bis zu 1632 Stunden Audiomaterial. Die Bewertung und Digitalisierung all dieser Materialien, die Speicherung der Digitalisate und der Erhalt der Originale bilden eine schier unüberschaubare Aufgabe.

In den anschließenden Führungen durch die SLUB und die Mediathek stellten Mitarbeiter des Hauses das moderne Digitalisierungszentrum für wertvolle Bücher, die Audioabteilung, das Videolabor und das Buchmuseum vor. Im „Allerheiligsten″ der Bibliothek finden sich Schätze wie das hebräische Gebetbuch „Machsor″ aus dem 13. Jahrhundert, Dürers Skizzenbuch der menschlichen Proportionen von 1523, Leonhardt Thurneissers Planetenscheibe, Handschriften von Luther und Bachs h-moll-Messe, sowie als Highlight der „Codex Dresdenis″, eine von drei weltweit erhaltenen Maya-Handschriften. Der maya-Codex aus dem 13. Jahrhundert ist ein vollständig erhaltenes, beidseitig beschriebener Leporello von dreieinhalb Metern Länge und enthält als „Wissensbuch″ verschiedene Kalendarien, Anweisungen für Aussaat, Ernte, den richtigen Zeugungstag und den von Endzeitforschern aus dem Codex herausgelesenen Weltuntergang am 21. Dezember 2012.

Nach dieser eindrucksvollen Führung und im Angesicht des nahenden Endes war eine Stärkung dringend nötig, und nach der Mittagspause moderierte Pio Pellizzari das irgendwie passende Thema „Katastrophen – und was dann?″ Hierbei handelte es sich zum Glück nicht um die Frage, wie AV-Dokumente den drohenden Weltuntergang überstehen, sondern um den Umgang mit den alltäglichen Gefährdungen ausgewählter Formate.

Ulrike Müller, Diplom-Restauratorin bei der Deutschen Fotothek der SLUB, erstattete in „Langzeitarchivierung von Fotobeständen″ einen Praxisbericht aus dem KUR-Projekt „Exemplarische Sicherung deutscher Bildgeschichte 1945-1960″. Direkt aus der Praxis der Fotorestauration führte die Referentin Abbauprozesse und Schadensbilder vor Augen und gab nützliche Hinweise für unbedenkliche Beschriftung und Aufbewahrung. Auch für eigentliche Tonarchive gewinnen Tests zur Unbedenklichkeit solcher Materialien (z. B. der Photographic Activity Test) oder Zusammensetzung von Trägern (etwa der Diphenylanin-Test zum Nachweis von Zellulosenitrat) an Bedeutung, da überlassene Sammlungen immer mehr gemischte Bestände umfassen.
Joachim Hack widmet sich als Mitarbeiter der Deutschen Nationalbibliothek derzeit besonders der CD-Langzeitarchivierung und Datenmigration beim Deutschen Musikarchiv (DMA). „Sind unsere CDs noch zu retten?″ lautete dementsprechend der Titel seines Vortrags. Das DMA beherbergt rund 430.000 Compact Disks nach Red Book-Standard. Hack erläuterte, dass dieser Standard zwar die inhaltlichen Strukturen und die Informationsanordnung auf dem Träger vorschreibe, aber nicht das Herstellungsverfahren, z. B. des Glasmasters. Unterschiedliche Werkstoffe führten etwa zu unterschiedlichen Wärmeausdehnungskoeffizienten im „Materialmix″ und damit zu Schädigungsprozessen. Das DMA hat eine Stichprobe von ca. 100 CDs in den Jahren 1993/4 aufwändig getestet und die Fehlerprotokolle mit den Ergebnissen der Testreihe dieser CDs aus den Jahren 2007 bis 2009 verglichen. Wurden im früheren Test 65% mit „good″ oder „ok″, 34 % mit „bad″ und 1% mit „defect″ bewertet, so erhielten rund fünfzehn Jahre später nur noch 20% derselben CDs eine positive Beurteilung, 51% waren „bad″ und 29% sogar „defect″. Hack: „Die Katastrophe ist eigentlich schon da″. Einen negativen Einfluss haben nach seiner Feststellung auch zur Aufbewahrung der CD verwendete Papphüllen, die, anders als die unbedenklichen Jewelboxen, an der Oberfläche eine Art Schimmelausfällung hervorrufen können. Unter Einsatz des Transfersystems von Cube-Tec hat das DMA ein CD-Datenträgermigrationsprojekt zur Langzeitarchivierung aufgesetzt. Besondere Bedeutung kommt hierbei der Anpassung der Software an die ganz eigenen Bedürfnisse des DMA hinsichtlich der Auswertung und Kategorisierung der Einlesedaten sowie dem ohrkontrollierten Abhören fraglicher Stellen zu.

Der Physiker Johann Spischak, Firmengründer von Spischak Digital in Nürnberg, forscht auf dem Gebiet extrem hoher Signalqualität und -haltbarkeit. In seinem Referat Digitale Langzeitarchivierung – mit unbegrenzter Haltbarkeit direkt auf Glas Discs geätzt bezeichnete er sich als Anhänger eines kompromisslosen „Qualitätsfanatismus″. Spischak setzt nicht auf das herkömmliche, aus „vielen Teilchen″ bestehende Polycarbonat, sondern auf die direkte Ätzung der Information auf Glas (1-Kristall-Struktur), dessen Überlegenheit im mikroskopischen Pitvergleich sichtbar werde. Reflexionsschicht und Schutzlack werden verzichtbar, dennoch kostet eine solche glasgeätzte CD derzeit zwischen 350 und 500 Euro. Im Zuge einer hohen Automatisierung sei aber für eine Jukebox mit 700 Glas-CDs künftig mit einem Preis zwischen 25.000 und 30.000 Euro zu rechnen. Für die „ewige Haltbarkeit der Glas Disc″ verweist Spischak auf Referenzen der Französischen Akademie der Wissenschaften, der japanischen Weltraumbehörde (Venus-Mission) und der NASA (Glas-DVD auf dem Flug zum Mars).

Im von Michael Crone moderierten Themenschwerpunkt Kontextualisierung von Zusatzinformationen berichtete zunächst die als Leiterin der Bibliothek der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig tätige Präsidentin der deutschen AIBM, Dr. Barbara Wiermann, in einem ebenso ambitionierten wie lebendigen Vortrag über Projekte und Perspektiven der Erschließung und Digitalisierung von Konzertprogrammen. Wiermann sieht angesichts der gegenwärtigen Situation einer „nur chronologischen Ablage″ zwei entscheidende Fragen: „Wie können wir historische Bestände so erschließen, dass sie zugänglich sind?″ und „Welche Konsequenzen hat das für den Bestandsaufbau?″ Zwei aktuelle Forschungsprojekte stellte Wiermann als positive Beispiele vor: The Prague Concert Life Project und Repertoire des programmes de concert en France, die beide vielseitige Sucheinstiege wie Komponist, Librettist, Veranstaltungstitel, Genre etc. bieten. Demgegenüber hat die Referentin im Bereich der bestandserhaltenden Institutionen leider auch Verbesserungsbedarf zu vermelden: So ist etwa beim Projekt Konzerte der Hofkapelle 1818-1858 der Württembergischen Landesbibliothek nur ein unkomfortables Blättern möglich, echte Suchfunktionen fehlen. Doch besteht nach Aussage der Referentin Hoffnung: Bereits vor ein paar Jahren wurde in der internationalen AIBM (IAML) eine „Working Group on Access of Performance Ephemera″ mit dem Ziel gegründet, sich künftig in einem Programm nach dem Vorbild der bereits erfolgreich arbeitenden „R-Gruppen″ (RILM, RISM usw.) des betreffenden Repertoires anzunehmen.

In ihrer unnachahmlichen Art und mit grandiosem Timing der Präsentation zog Mary Ellen Kitchens, Leiterin der Hörfunkarchive des Bayerischen Rundfunks, in ihrem eher trockene Kost erwarten lassenden Beitrag Verlinkung zu Zusatzinformationen in der föderierten Suchmaschine der BR-Archive: Aktueller Stand und Zukunftsvisionen die Zuhörerschaft in ihren Bann. Zu Beginn ihres Referats über das Tool Medienbroker (im englischen Sprachraum bekannter unter der Bezeichnung „Federal Research″) verwies Kitchens zugleich auf ihr Münchner Tagungsreferat im Vorjahr und die Anknüpfungspunkte an Barbara Wiermanns zuvor gehörten Vortrag hin. Am Beispiel der Vertonung von Goethes Erwin und Elmire zeigte Kitchens zunächst die Entwicklung des Angebots an Zusatzinformationen, wie die Abfrage per eMail-Button, die Coverinformationen und den „Warenkorb Rechteklärung″. Anschließend zeigte sie den Medienbroker als Knüpfmaschine und die Verknüpfung zur Pressedatenbank und Dokumentation von Programmheften und Manuskripten. Die „erfolgreiche Verknüpfung mit zuverlässigen Quellen″ demonstrierten eindrucksvoll die Links zum Bayerischen Musiker-Lexikon Online, zum DMA, zum internationalen bibliothekarischen Normdatenprojekt und zum eingangs von Katrin Bemmann vorgestellten Schranck No: II-Material. Die Kunst sei es, die richtigen Quellen anzuzapfen, betonte Kitchens und schloss ihren Vortrag mit ihrer Vision vom auf den Kundenbedarf optimal abgestimmten „Medienobjekt-Dossier″.

Anschließend trug Dr. Steffen Lieberwirth, Musikwissenschaftler, Gewandhausdramaturg und Chefproduzent in der Hörfunkdirektion des Mitteldeutschen Rundfunks Leipzig, als leidenschaftlicher Archivnutzer bewegende Gedanken zum Thema Wenn Archivgut lebendig wird – vom Umgang mit historischen Tondokumenten vor. Lieberwirth zollte „mitdenkenden Archiven″ wie dem Deutschen Rundfunkarchiv oder der Mediathek der SLUB Lob und Dank und schilderte ausführlich „ein Fallbeispiel für die emotionale Bedeutung von Archivgut″: Folge 30 der Edition der Staatskapelle Dresden ist Fritz Busch gewidmet, der von 1922 bis 1933 Chefdirigent in der Semperoper war. Busch, nicht nur in den Augen des Referenten „einer der vergessensten Dirigenten des 20. Jahrhunderts und einer der bedeutendsten″, betrieb die „Wiederentdeckung″ von Verdi-Opern, führte Puccinis Turandot auf, brachte aber auch Hindemith und Richard Strauss zu Gehör. Fritz Busch weigerte sich, die Fahnen der Nationalsozialisten an der Semperoper aufzuhängen und jüdische Musiker und Mitarbeiter zu entfernen. Mitten in einer Rigoletto-Aufführung wurde er 1933 selbst hinausgeworfen. Mit einem längeren Ausschnitt der Kundgebung am 7. März 1933, in deren Verlauf dann doch die Nazifahnen gehisst und der Platz vor der Oper in Adolf-Hitler-Platz umbenannt wurde, beendete Steffen Lieberwirth seinen eindrucksvollen Vortrag.

Eine ebenso beeindruckende Führung durch den von der Nazibarbarei und ihren Folgen so sehr in Mitleidenschaft gezogenen und doch so wunderbar wiedererstandenen Stadtkern fand viele Interessenten. Schließlich sorgte ein gemütlicher Abendausklang in den Wenzel Prager Bierstuben für die nötige Kräftigung vor dem zweiten Konferenztag.

Die Mitgliederversammlung der Ländergruppe bildete den Auftakt des Samstags. Nach den üblichen Berichten und der Abarbeitung der Tagesordnung hatte die Versammlung in diesem Jubiläumsjahr eine besondere Aufgabe, derer sie sich einstimmig entledigte: Prof. Dr. Ulf Scharlau wurde auf Vorschlag des Vorstands zum ersten Ehrenmitglied in der Geschichte der IASA-Ländergruppe Deutschland/Deutschschweiz gewählt. In seiner Laudatio begründete Pio Pellizzari den Vorschlag mit der herausragenden Rolle Scharlaus als „Vater″ der Ländergruppe. Der von seiner Ernennung völlig überraschte Ulf Scharlau, der, als hätte er's geahnt, zum Anlass passend im IASA-grünen Pullover erschienen war, dankte sichtlich bewegt für die vom Vorsitzenden überreichte Ehrenurkunde und konnte den Anwesenden von einem „feucht-fröhlichen Abend während der IASA-Konferenz im geschichtsträchtigen September 1989 in Oxford" berichten, an dem im Kreis der deutschsprachigen Kollegen die eigentliche Geburtsstunde der Ländergruppe schlug, während gleichzeitig Hunderte von Flüchtlingen aus der DDR in der Prager Botschaft der Bundesrepublik Aufnahme fanden.

Anke Leenings bat nach der Kaffeepause zum Themenblock Schumann, Wagner und andere Sachsen. Dr. Thomas Synofzik präsentierte in seinem Referat Die Tonträger-Bestände im Robert Schumann-Haus Zwickau Spannendes zur Interpretationsgeschichte. Synofzik, Direktor des Hauses seit 2005, würzte seinen kurzweiligen Überblick von den Anfängen im Jahr 1928 bis zur Gegenwart mit Hörproben aus dem Schaffen des Komponisten und bemerkenswerten Zeitdokumenten wie einem Brief des ersten Direktors Martin Kreißig, worin dieser der DGG seine „Bekehrung zum Grammophon″ mitteilt. Das Robert Schumann-Haus besitzt heute fast einhundert Schellackplatten der Deutschen Grammophon-Gesellschaft überwiegend mit Werken Schumanns, darunter so bedeutende wie Grünfelds Einspielung der Cello-Bearbeitung der Träumerei aus dem Jahr 1903. Hinzu kommen etwa 900 CDs mit Schumann-Aufnahmen und gut 700 Vinylplatten, davon etwa 50% mit Werken seines Namensgebers. Neben einer monatlichen Reihe mit Interpretationsvergleichen und Buchprojekten widmet sich die Institution auch digitalen Vorhaben wie der Handschriftenedition oder dem Zukunftsprojekt, die Tonaufnahmen an Abhörplätzen externen Nutzern zugänglich zu machen. Als Schmankerl zum Abschluss konnten die Zuhörer die schnellste aller 55 existierenden Einspielungen der 1. Sinfonie Schumanns genießen, eine akustische, 1925 von Hans Pfitzner dirigierte Aufnahme, die der ersten, schnelleren Metronomangabe des Komponisten folgt.

Michael Hurshell, bekannt als Chefdirigent der Neuen Jüdischen Kammerphilharmonie und Dozent an der Musikhochschule Dresden, stellte seine ambitionierten Ideen zur Richard-Wagner-Stätte Schloss Graupa vor. In diesem 1666 erbauten Jagdschloss entwarf Richard Wagner während seines Sommerurlaubs 1846 seine Oper Lohengrin. Hurshell kuratiert den (Wieder-) Aufbau und die konzeptionelle Gestaltung bis zur geplanten Eröffnung vor Wagners 200. Geburtstag im Jahr 2013. Der Ansatz sieht eine moderne, multimediale Dauerausstellung im barocken Ambiente vor und folgt dem Gedanken, bei Vorhandensein nur weniger Schauobjekte stattdessen mit den Mitteln des vielfältig eingesetzten Klanges die wesentlichen Themenbereiche und Zusammenhänge erfahrbar zu machen und dabei auch mit alten Vorstellungen aufzuräumen. So soll schon beim Betreten der Stätte durch variierte Klänge das „Vorurteil des Besuchers zerstreut werden, der Walkürenritt sei der typisch Wagnersche Kompositionsstil″. Auf seinem Weg durch das Haus wird der Gast mit Themen wie Liebe und Hass, Strafe und Vergebung konfrontiert, und junge Menschen sollen über den Begriff Fantasy und mit Mitteln der Filmmusik an Wagner herangeführt werden. Nach Hurshells Konzept kulminiert alles im Dramatischen Raum (Theater und Bühne), wo Zauber und Verwandlung stattfinden werden. Ein „Festsaal″ mit etwa 100 Plätzen wird im Obergeschoss die Präsentation krönen. Seinen ganz besonderen Reiz bezieht das Vorhaben nach Hurshells Worten aus dem vermeintlichen Widerspruch zwischen Wagners persönlich geprägtem, eher unpolitischen Antisemitismus und seiner lebenslangen Freundschaft zu verschiedenen jüdischen Menschen sowie der eigenen Herangehensweise, als Kurator jüdischer Herkunft ein neues Konzept „gegen die Interpretationshoheit eines klassischen Wagnerklangs″ zu präsentieren.

Wegen Erkrankung der Referentin musste der Beitrag über das Deutsche Komponistenarchiv in Hellerau leider entfallen.

Im Offenen Forum zum Tagungsende konnte Detlef Humbert wieder einige Referenten mit kürzeren Beiträgen begrüßen, die die ganze Bandbreite der Forschungs- und Sammeltätigkeit in den Reihen der IASA-Ländergruppe verdeutlichen.
Stephan Puille, Restaurator für archäologische Objekte in Diensten der Berliner Hochschule für Technik und Wirtschaft, präsentierte dem gespannten Publikum in Reden und Singen wie gedruckt – zwei deutschsprachige Schallplatten von 1889 auf Papier wieder seine höchst bemerkenswerten „Audio-Ausgrabungen″. Die beiden, von Puille vorgeführten, Schalldrucke in „Kupferdruckmanier″ vom November und Dezember 1889, enthalten zum einen das erste in deutscher Sprache gesungene Lied, dazu gesprochene Zahlen, das Alphabet und ein Gedicht. Sprecher ist Emile Berliner selbst. Die Drehzahlangabe der Berliner-Schallplatte in Seitenschrift lautet „R 50″. Die zweite Aufnahme ist als weißer Schalldruck aus Gelatine auf rotes Papier geklebt. Diese Aufnahme entstand am 11.11.1889 in „Hannover, Andreaestr. 24, 1. Stock″ vor Werner von Siemens und enthält Zahlen und anderes in mehreren Sprachen, dazu Schillers Glocke. Auch in diesem Jahr konnte Stephan Puille dem staunenden Publikum damit wieder zwei außergewöhnliche Raritäten präsentieren, und der Verfasser dieses Berichts ist sicher, dass auch 2011 wieder etwas Besonderes aus der Audio-Archäologie zu sehen und zu hören sein wird.

Wenn der Sammlerkollege Jürg König, pensionierter Lehrer aus dem schweizerischen Pieterlen das Podium betritt, darf sich das Publikum auf eine vergnügliche Präsentation kurioser Audio-Objekte freuen. Diesmal hatte König seine Frau zur Unterstützung mitgebracht und das geheimnisvolle Thema „Ton und Bild – aber kein Tonfilm!″ gewählt. Aus dem Zauberkoffer holten die Königs Tonträger aus den verschiedensten Dekaden des 20. Jahrhunderts, die während des Abspielens auch etwas für‘s Auge zu bieten haben: Schellackplatten mit Bildrückseite, etwa einem ornithologischen Vortrag mit umseitigen Abbildungen der beschriebenen Vögel; die Picture Disc Sgt. Pepper der Beatles; Shape Singles der Popgruppen Skid Row in Gitarrenform und Icehouse als Australienkarte; Mozarts Don Giovanni mit einem sechzehn Dias enthaltenden Klappcover; Tänzer am Rand des Plattentellers, die durch von einem Reibrad bewegte Magneten zum Tanzen gebracht werden; Teddy-Plättli mit Bildern im Innenbereich, die an einem sich drehenden Pavillon gespiegelt werden und so einen Filmablauf simulieren; Viewmaster mit Okularen und Tiefenschriftplatten von Michael ,Jackson oder der Kinderserie Sesame Street; schließlich der legendäre VW-Bus mit Tonabnehmersystem auf der Unterseite (Vinyl Killer, Nachfolgemodell Soundwagon oder Mini Clubman), der jede auf dem Tisch liegende 33 1/3 Umdrehungen pro Minute-Vinylplatte „befährt″ und wiedergibt. Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was Jürg König seiner „Fangemeinde″ diesmal zu bieten hatte. Fortsetzung folgt – vielleicht 2011?

Weniger um Spielerei und Spaß als vielmehr um eine technische Lösung zur Audio-Qualitätssicherung ging es im Vortrag von Tom Lorenz, Cube-Tec International Bremen. Das von ihm vorgestellte Verfahren zur Sicherung der Qualität von Einspielungen wurde entwickelt, um „die auf dem Weg zum Archiv-File noch vorhandene Lücke der Überwachung des Einspielweges″ zu schließen. Ein definiertes Messsignal zu Beginn muss am Messpunkt exakt ankommen, die Differenz ist der Übertragungsverlust. Der von Cube-Tec vorgestellte Calibration Inspector ist für die analogen Quellen Tonband, Schellack, Vinyl und Musicassette geeignet. Seine Messparameter erstrecken sich auf Abweichungen der Sollgeschwindigkeit, Wow & Flutter, Azimuth, Balance, Übersprechen usw.. Ausgegeben werden im Fehlerprotokoll u. a. Übertragungsfehler, Standardkonformität oder auch eine Maschinenwartungswarnung. Konzipiert ist das Verfahren für die Einzelprüfung, nicht für die Online-Überwachung von Einspielungen. Für nicht standardisierte Einspielungen und Wiedergabegeräte ist das System nicht geeignet. Eine eigens entwickelte Testplatte zur Kalibrierung kann bei Cube-Tec angefordert werden.

Christiane Hofer, Präsidentin der Internationalen Gesellschaft für historische Tonträger – Alfred-Seiser-Stiftung Wien, lud anschließend in einem kurzen Aufruf zum Discografentag 2011 ein und bat um Unterstützung des Lindström-Projekts durch Überlassung von Originaldokumenten wie Kataloge, Verträge der Carl Lindström AG zum Zweck der Forschungsarbeit der GHT. Eine u. a. von Frank Wonneberg herausgegebene CD-ROM mit Lindström-Dokumenten ist in Vorbereitung.

Pio Pellizzari beendete als Vorsitzender der Ländergruppe eine „Tagung voller reicher Beiträge, lustiger und überraschender, in jedem Fall interessanter Vorträge″. Er richtete nochmals einen großen Dank an Marc Rohrmüller und das gesamte Team der SLUB für die großartige Vorbereitung und die freundliche Aufnahme und lud alle Teilnehmer zur nächsten Tagung am 11. und 12. November 2011 nach Basel ein.

Detlef Humbert
Sekretär der IASA-Ländergruppe Deutschland/Deutschschweiz e. V.